Drucken 

Krankenhäuser für Krankheiten

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht ein kurzer Ausschnitt aus einem wissenschaftlichen Aufsatz, der die Institution des Krankenhauses problematisiert: PatientInnen werden zu Objekten gemacht, gleichgeschaltet, individuelle bzw. gesunde Anteile werden ausgeklammert und stattdessen wird nur die hegemoniale Sichtweise eines technisierten, bürokratischen Gesundheitssystems berücksichtigt. In Anlehnung an Johannes Rohbeck (2010) erproben die Lernenden unterschiedliche philosophische Denkrichtungen, wodurch die vielfältigen Zusammenhänge des Problems deutlich und die im Text angesprochenen Aspekte auf verschiedene Weise erfahr- und verstehbar gemacht werden: begriffliche Vermittlung von Normen, zeithistorischer Kontext, Intentionen der AutorInnen, Rezeption aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen und Vorverständnisse sowie dialektische Denkbilder.

Die Textstelle lautet:

„[...] Die Krankenhäuser sind für die Krankheit, nicht aber für den Kranken gemacht, weil der Kranke bis zu seinem Tode stets Krankheit und Gesundheit in sich trägt, d.h. er ist immer auch Teil des Lebens. Dies (außer der Tatsache, daß sie ein auf die Techniker zugeschnittener Arbeitsplatz sind) macht die Krankenhäuser zu dem, was sie sind: Organisationen, in denen der Kranke ausschließlich krank ist; dort wird auch noch der letzte Rest an Lebendigem, der ihm verblieben ist, durch die wirksame Unwirksamkeit der Anstalt negiert. Das Krankenhaus arbeitet als reine Organisation der Krankheit, als eine von der Wirklichkeit des Kranken absolut, aseptisch getrennte Tatsache.“ (Basaglia u.a. 1979, 323)

Unterrichtsbausteine

1. Philosophische Hermeneutik: Als wichtiger Aspekt der Hermeneutik wird das Vorverständnis der RezipientInnen angesehen. Um sich dessen bewusst zu werden, kann die Technik des verzögerten Lesens eingesetzt werden. Dazu wird vor der Lektüre des Textes in ca. fünf Sätzen die eigene Vorstellung dazu formuliert, wie im Krankenhaus mit Gesundheit und Krankheit umgegangen wird. Am Ende der Unterrichtssequenz können unter Heranziehung dieser Notizen mögliche Veränderungen des Verständnisses reflektiert werden.

2. Objektive Hermeneutik: Um den Sinn des Textes herauszukristallisieren, der bei diesem Ansatz als gegeben und erfassbar angenommen wird, sollen die Lernenden in eigenen Worten den Inhalt des Textes wiedergeben. Zum Beispiel: Das Krankenhaus ist für die Krankheit (und für Techniker) und nicht für die Kranken da, weil die Person auch immer gesunde Anteile hat. Durch die ausschließliche Konzentration auf die Krankheit werden alle gesunden, lebendigen Anteile der Personen ausgeblendet. Was die Krankheit für die PatientInnen bedeutet, hat für die Institution überhaupt keine Relevanz.

3. Intentionalistische Hermeneutik: Bei diesem Ansatz steht das Anliegen der AutorInnen im Zentrum des Interesses. Um deren mögliche Schreibabsicht zu erfassen, rekonstruieren die Lernenden mögliche Intentionen aus dem Text und recherchieren die wissenschaftlichen Hintergründe der VerfasserInnen und deren Wirken. 

4. Hermeneutik und kultureller Kontext: Als Aufgabenstellung wird hier die Recherche des Kontextes gegeben, der in der Antipsychiatriebewegung in Italien (Öffnen der Institutionen, Herrschaftskritik) liegt. Zudem wird danach gefragt, inwiefern der Text heute noch aktuell ist und die Kritik vielleicht nur auf bestimmte Kulturen zutrifft. Mögliche Antwort: Die Situation hat sich vielleicht noch verschärft, weil das Krankenhaus im Kontext westlicher moderner Industriegesellschaften durch Technikaffinität, Schulmedizin und große Bedeutung der Hygiene gekennzeichnet ist.

5. Dekonstruktion: Vor dem Hintergrund der Deutungsvielfalt und der Suspension des einzigen allgemeingültigen Sinns können hier unterschiedliche Lesarten präsentiert werden. Eine dekonstruktivistische Lektüre geht möglichen Lücken, Brüchen und verborgenen Aussagen eines Textes nach. Eine mögliche Aufgabenstellung wäre: Suchen Sie nach Aspekten, die im Text nicht enthalten sind oder offenbleiben. Beispiele:

Verfassen Sie einen Dialog zwischen Personal (ÄrztInnen, Pflegekräfte) und einer Patientin, in dem sie versucht, ihre Sicht auf ihre Krankheit darzulegen. Um die Perspektive der „PatientIn“ zu vertreten, können auch die Downloads der Materialien Betroffenensicht verwendet werden.

6. Phänomenologie: Wenn es um unmittelbare Wahrnehmungen geht, können hier zweierlei Arten von Aufgaben gestellt werden:

7. Analytische Philosophie: Um Begriffe und Argumente zu klären, können die zentralen Begriffe des Textes, wie Krankenhaus, Krankheit und Kranke, ihren Abgrenzungen gegenübergestellt werden. Auch die Argumentation, die anhand dieser Begriffe zum Ausdruck kommt, lässt sich sehr schön veranschaulichen (z.B. in einer Skizze, wenn als vierte Größe „die gesunden Anteile“ in- bzw. exkludiert werden). 

8. Dialektik: Die Widersprüche oppositionell platzierter Begrifflichkeiten lassen sich anhand der Begriffspaare krank/gesund herausarbeiten, wie sie im Text aufgebrochen werden. Es ist aber auch möglich, die Unterscheidung zwischen „reine[r] Organisation“ und Personen mit verschieden gemischten Anteilen zu hinterfragen. Hierzu eignet sich ein kurzer schriftlicher Text oder aber eine Rede, in der die Dichotomien zuerst markant herausgestellt werden, bevor sie der Kritik unterzogen werden.

9. Konstruktivismus: Die zentralen Begriffe werden anhand alltäglicher Erfahrungen der Lernenden rekonstruiert, und zwar jenseits einer strikt logischen Argumentation. Folgende Aufgabenstellung könnte formuliert werden: Gehen Sie von einer eigenen Krankheitserfahrung aus und vergegenwärtigen Sie sich einen Tag, an dem Sie krank waren. Sammeln Sie Gefühle und Empfindungen, an die Sie sich noch erinnern können. Dann versuchen Sie, die Begriffe nach kranken und gesunden Anteilen zu trennen, und markieren die Stichworte, für die Ihr Arzt, ihre Ärztin zuständig war. Welche Fragen ergeben sich daraus: Was passiert, wenn man die Bereiche in dieser Art trennt bzw. die gesunden Anteile ausblendet?

10. Strukturalismus: Jenseits von Kontext und Intention lässt sich jeder Text auch nach der Darstellung, d.h. seiner sprachlichen Struktur, untersuchen. Zu suchen wäre nach Wiederholungen (wiederholte Wörter statt Synonyme; wiederholte duale Struktur) und nach Höhepunkten (Kursivsetzung; Metapher „aseptisch“). Diese Struktur kann anhand eines anderen Themas reproduziert werden. Dazu sollen die Lernenden einen kurzen Text verfassen, der ebenfalls auf Wiederholungen aufbaut, eine duale Struktur hat und einen Höhepunkt enthält.

Literatur

Basaglia, Franco/Basaglia Ongaro, Franca/Gianichedda, Maria Grazia (1979): Gesundheit, Krankheit und Gesellschaft. Die Mehrdeutigkeit des Gesundheitskonzepts in der industrialisierten Gesellschaft. In: Heinrich Keupp (Hg.): Normalität und Abweichung. Fortsetzung einer notwendigen Kontroverse. München u.a. (= Fortschritte der Klinischen Psychologie, 17), 317–335.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Urban & Schwarzenberg.

Rohbeck, Johannes (2010): Zehn Arten, einen Text zu lesen. In: ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik, Dresden, 163–174. 

Anregungen und Hinweise

Die Methodik ist angelehnt an Johannes Rohbeck, der zudem gut verständliche Skizzen der verschiedenen philosophischen Methoden liefert. 

Rohbeck, Johannes (2010): Zehn Arten, einen Text zu lesen. In: ders.: Didaktik der Philosophie und Ethik, Dresden, 163–174. 

Zurück