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Eine Norm für das Normale?

Was ist normal und was ist abweichend? Kann normal mit „naturgemäß“ gleichgesetzt werden und/oder mit „gesund“? Aber was ist dann „natürlich“ und was nicht? Wie „gesund“ ist „normal“? Und wer bestimmt die Kriterien, wer ist befugt, die Grenzen zu bewachen? Vorstellungen von Normalität und Abweichung liefern Kriterien für Zugehörigkeit und Ausschluss und sind damit für die Ordnung eines sozialen Systems bestimmend. Was unter Normalität im Hinblick auf den Menschen zu verstehen ist, welche Abweichungen toleriert werden und welche Konsequenzen im Einzelnen daraus zu ziehen sind, ist abhängig von wertenden, soziokulturell geprägten Normvorstellungen. Die Lernenden sollen dazu angeregt werden, sich kritisch mit eigenen und gesellschaftlich dominanten Normalitätserwartungen im Zusammenhang mit Körper, Gesundheit, Krankheit und Behinderung auseinanderzusetzen. Dies bezieht Fragen danach mit ein, welche Leitbilder dahinterstehen, wie sie durchgesetzt werden und welche Konsequenzen sich für jene Menschen ergeben, welche den Normalitätserwartungen nicht entsprechen. Ziel ist es, erkennbar zu machen, dass Normalitätsvorstellungen sozial konstruiert und deshalb prinzipiell auch veränderbar sind.

Unterrichtsablauf

Um das Themenfeld von Normalität und Abweichung zu eröffnen, kann ein kreativer Zugang gewählt werden. Diese Übung kann im Freien (z.B. auf einem Spielplatz) oder im Turnsaal gemacht werden. Sollte nur der Klassenraum zur Verfügung stehen, muss eine alternative Aufgabenstellung gefunden werden (z.B. auf einem Bein stehen, Hände gestreckt nach oben halten).
Die Lernenden werden dazu aufgefordert, sich mit den Händen an eine Stange zu hängen, die Füße dürfen nicht den Boden berühren. Wie lange schaffen es die Lernenden, in dieser Position zu verharren? Die maximale Verweildauer in dieser Position wird gemessen (die Lehrenden geben das Startsignal und zählen laut die Sekunden). Die Lernenden schreiben ihre Zeit auf einen Notizzettel und heften sich diesen an die Brust. Anschließend stellen sie sich nach ihren Ergebnissen in einer Reihe auf. Dann wird der Durchschnitt ermittelt. Zwischen den Lernenden, die oberhalb und unterhalb des Durchschnittswertes liegen, wird eine deutliche Markierung gezogen. 

Die Lernenden sollen nun einen „Normbereich“ definieren: Bis zu welcher Verweildauer handelt es sich um „normale“ Werte, welche Werte liegen außerhalb dieses Bereiches? Auch dieser „Normbereich“ wird nun deutlich markiert. Eventuell können für diese Phase zwei BeobachterInnen bestimmt werden. Diese geben anschließend Rückmeldung darüber, wie das Bestimmen des Normbereiches gruppendynamisch abgelaufen ist. 

Die Lernenden, die knapp unterhalb und knapp oberhalb der Normgrenzen stehen, werden nach ihrem Befinden befragt. 

Nun wird die Übung wiederholt. Die Lernenden notieren ihren neu erreichten Wert auf demselben Zettel und stellen sich ihren Werten entsprechend im zweiten Durchgang wiederum in einer Reihe auf, wobei der nach dem ersten Durchgang definierte Normbereich markiert bleibt. 

Im Anschluss werden Gruppen gebildet, die ihren Durchschnittswert errechnen, wobei relevante und irrelevante Faktoren berücksichtigt werden können: Durchschnittswerte aller Burschen/Mädchen, aller SchülerInnen, die in Turnen ein „Sehr Gut“ haben, aller, die in derselben Jahreszeit Geburtstag haben usw. Daraufhin wird diskutiert, welcher Durchschnittswert in einer Volksschulklasse, in einem SeniorInnenheim, in einem Leistungssportkader ermittelt werden würde und welche Auswirkungen diese Unterschiede haben könnten.

Die Lernenden werden dazu aufgefordert, sich einzeln oder im Zweiergespräch mit folgenden Fragen auseinanderzusetzen:

Anschließend können die Lernenden ihre Eindrücke und Empfindungen im Plenum besprechen. Für einen theoretischen Input zur Verwendung des Normalitätsbegriffs in unterschiedlichen Kontexten können beispielsweise die Ausführungen Martin Honeckers (2004, 191–206) zu Kriterien menschlicher Normalität herangezogen werden. Heiner Keupp (2007) gibt einen Überblick über die Geschichte von Normalitätsdiskursen, womit das Verständnis dafür erweitert werden kann, inwiefern Gesundheitsdiskurse als Produktionsstätten von Normalität und Identität zu verstehen sind und was es bedeuten würde, sich von der Polarität Normalität versus Abweichung zu verabschieden (Normalität und Abweichung).

Variante

Weiterführend wird im Plenum gesammelt, welche Lebensaspekte (z.B. Aussehen, Intelligenz, sexuelle Orientierung, soziales Verhalten, psychische und körperliche Gesundheit, kulturelle Gepflogenheiten usw.) in unserer Gesellschaft im Koordinatensystem von Normalität und Abweichung diskutiert werden. Entweder wird in Gruppenarbeiten jeweils einer der Aspekte behandelt oder es werden im Plenum folgende Fragen besprochen:

Literatur

Honecker, Martin (2004): Zur Begründungsproblematik der Genforschung. In: Volker Schumpelick/Bernhard Vogel (Hg.): Grenzen der Gesundheit. Beiträge des Symposiums vom 27. bis 30 September 2003 in Cadenabbia. Konrad-Adenauer-Stiftung. Freiburg im Breisgau, 191–206.
Mit bestem Dank für die Publikationserlaubnis des Ausschnitts „Kriterien menschlicher Normalität“.

Keupp, Heiner (2007): Normalität und Abweichung. Vortrag bei der 6. bundesweiten Fachtagung Erlebnispädagogik am 06.–08. September 2007. Freiburg. Verfügbar unter: http://bsj-marburg.de/fileadmin/pdf_fachbeitraege/Normalitaet-Abweichung-Heiner_Keupp.pdf (download am 12.07.2012)

Anregungen und Hinweise

Eine Verknüpfung mit folgenden Übungen bietet sich an:

Gesund oder Krank?
41 % Behinderte?
ABC des Alters und Alterns
IKEA-Identität
Körper und Macht
Nie zu spät für Sex und Zärtlichkeit
Blickwechsel

Autorin

Katharina Pecher

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