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Didaktische Überlegungen

Von Sabine Zelger

Schule ist wie andere Institutionen des Staates ein wirkmächtiger Ort für die „Macht der Norm“ und die „Normalisierungsmacht“, deren fatale Auswirkungen auf Körper und Seele, auf Gesundheit und das gute Leben Michel Foucault (1994) detailreich belegt hat. Weil diese Macht immer zugleich homogenisiert und individualisiert, nivelliert und kleinste Niveauunterschiede bemisst, hat sie leichtes Spiel. (vgl. ebd., 237f.) Wie ein Unterricht dieses Spiel erschweren und diesem überaus produktiven Machtmechanismus vielleicht sogar entgegenwirken kann, wurde im Projekt „ethik&gesundheit. Unterricht jenseits normalisierender Anerkennung“ erforscht. Folgende Überlegungen (vgl. im Detail Zelger 2012), die den Materialien dieser Website zugrunde liegen, sind hierfür von Bedeutung.

 Je nachdem, in welchen Fächern Ethik und Gesundheit thematisiert wird, werden bestimmte Zugänge und Perspektiven bevorzugt und andere ausgeblendet. (vgl. Schmid 2007) Statt die Materialien auf spezifische Gegenstände auszurichten – und damit auch die Schwächen der jeweiligen Fächer zu beerben  –, sind die Materialien um inhaltliche Schwerpunkte aufgebaut. Sie berücksichtigen verschiedene Bezugsdisziplinen und können in unterschiedlichen Gegenständen oder fächerübergreifend bearbeitet werden. Durch rezeptions- und produktionsorientierte Methoden werden die kognitive und emotive Dimension gleichermaßen berücksichtigt. Für fachferne Lehrkräfte sind Hintergrundartikel zu ethischen Positionen downloadbar.

Dass ethische Fragen in verschiedenen Fächern und Disziplinen unterschiedlich behandelt werden und ihnen unterschiedliche Relevanz zugewiesen wird, zeigt sich auch in den Curricula verschiedener Schultypen. Dabei offenbart sich eine früh einsetzende Spezialisierung und Hierarchisierung des Wissens. Im Gegensatz dazu sind diese Materialien gleichermaßen an allgemein- und berufsbildende (Hoch)schulen mit den Schwerpunkten Pflege bzw. Technik gerichtet und sollen frühen Perspektivverengungen entgegenwirken. Auf jeweils vernachlässigte Fragestellungen und Zugänge wird durch provokante Titel und Schlagwörter aufmerksam gemacht.

Wissen und Moralvorstellungen regen zu Normalisierungsprozessen an, wenn sie mit Michel Foucault (2011) als Ergebnisse komplexer Machtprozesse angesehen werden, in denen Positionen marginalisierter Personengruppen ausgeblendet sind. Alternative Deutungen und Wertungen erscheinen nicht denkbar. Dagegen sind diese Materialien einer konstruktivistischen Didaktik verpflichtet, die Lernen als konstruktive und dekonstruktive Prozesse versteht (vgl. Wiater 2011, 121f.), in denen Normierungen kritisch reflektiert werden. Statt zu fragen, welche ethischen Normen befolgt werden sollen, wird untersucht, wie diese Normen produziert werden und wer von den Diskursen ausgeschlossen ist.

Normierungseffekte entstehen aber auch, wenn Lernende zu bestimmten Werten erzogen und der Unterricht an bestimmte Skalen orientiert wird, ohne zu berücksichtigen, welche Wertmaßstäbe dahinter stehen, die sodann unreflektiert reproduziert werden. Dagegen werden in einer kritisch kommunikativen Didaktik (Winkel 2000) gemeinsam Ist-Werte reflektiert und Soll-Werte diskutiert. Die Vielfalt der Lernenden und Lehrenden, die an diesen Interaktionen beteiligt sind, spiegeln sich in den Materialien und Zugängen.

Die Macht der Norm wird aber nicht nur in Fachgrenzen, Diskursen und Skalen reproduziert, sondern darüber hinaus in standardisierten Kompetenzen und Wertungsschematas. Die hier vertretene Kompetenzorientierung mit der stufenlosen Differenzierung in sechs Kompetenzen versteht sich deshalb nur als grobe Richtung für allgemeine Fähigkeiten, die mit den ausgewählten Materialien erworben bzw. gefördert werden können. Mit Renate Richters Eisbergmodell (2007) werden die Kompetenzen als großteils unsichtbares und unzugängliches Territorium mit Motivationen und Interessen verstanden, die im Unterricht berücksichtigt, aber nicht bewertet werden können und sollen. In diesem Sinn verstehen sich die Materialien und Umsetzungsideen als Anregungen, die auf möglichst unterschiedliche Art und Weise Interesse anregen und Fähigkeiten vermitteln sollen.

Dass das Fach Ethik in Österreich noch nicht institutionalisiert wurde und immer wieder zur Diskussion steht, kann hinsichtlich der Normierungsmacht auch als Chance gesehen werden, weil fächerübergreifende und offenere Zugänge gedacht werden können. Die Kritikpunkte der mangelnden Praxisnähe (vgl. Schmid 2007) und mangelhaften gesellschaftlichen und politischen Wirksamkeit (vgl. Dietrich u.a. 2008) sollten dennoch ernst genommen werden. In Zusammenarbeit mit SchülerInnen und LehrerInnen wurden deshalb entsprechende Aspekte ausgewählt, lebensweltnahe Aufträge und projektorientierte Unterrichtssequenzen entwickelt.

 

Literatur

Dietrich, Julia/Kosuch, Markus/Marx-Stölting, Lilian u.a. (2008): Konkrete Diskurse zur ethischen Urteilsbildung. Ein Leitfaden für Schule und Hochschule am Beispiel moderner Biotechnologien. München.

Foucault, Michel (2011): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main.

Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main.

Richter, Renate (2007): Biologieunterricht im Umbruch. In: Unterricht Biologie H. 328, 2–7.

Rohbeck, Johannes (2010): Didaktik der Philosophie und Ethik. Dresden.

Schmid, Bruno (2007): Bioethisches Lernen im Unterricht. Neue didaktische und methodische Ansätze. In: Elke Bohlken, Siegbert Peetz (Hg.), Bildung Subjekt Ethik. Bildung und Verantwortung im Zeitalter der Biotechnologie, Darmstadt 173–201.

Wiater, Werner (2011): Ethik unterrichten. Einführung in die Fachdidaktik. Stuttgart.

Winkel, Rainer (2000): Antinomische Pädagogik und kommunikative Didaktik. Berlin.

Zelger, Sabine (2012): Die Macht der Norm. Didaktische Herausforderungen und Konsequenzen für den Ethikunterricht. In: dies./Pfabigan, Doris (Hg.): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien, 87–94.