Drucken 

Projektskizze

„ethik&gesundheit. Unterricht jenseits normalisierender Anerkennung“. Hintergrund, Höhepunkte und Ergebnisse eines Sparkling Science-Projekts 

Von Sabine Zelger

Wie junge Menschen für den Umgang mit bioethischen Herausforderungen sensibilisiert und befähigt werden sollen und können, war die zentrale Fragestellung des Projekts „ethik&gesundheit. Unterricht jenseits normalisierender Anerkennung“. In diesem vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung finanzierten Sparkling Science-Vorhaben wurden SchülerInnen und Lehrkräfte mit unterschiedlichen Bezügen zu Gesellschaft und Gesundheit aktiv in didaktische Forschung miteinbezogen. Ethische Fragen, die sich hinsichtlich Gesundheit und Krankheit, Alter und Altern, Normalität und Abweichung sowie in Bezug auf das Gesundheitssystem stellen, standen zur Diskussion. Von 2010 bis 2012 wurden sie von SchülerInnen eines Gymnasiums, einer Gesundheits- und Krankenpflegeschule sowie einer Höheren Technischen Lehranstalt (HTL) mit Schwerpunkt Gesundheitstechnik ausdifferenziert und bearbeitet.

Von Anfang an waren die Erwartungen groß und die Wünsche vielfältig. Interessiert an den unterschiedlichen Erfahrungen der LehrerInnen und SchülerInnen zeigte sich Stefan Krammer vom Fachdidaktischen Zentrum Deutsch. Schließlich ginge es darum, gemeinsam Materialien zu entwickeln, die im Unterricht eingesetzt werden können: im Ethikunterricht sowie in verschiedenen Fächern, in denen Ethik als Unterrichtsprinzip realisiert wird. Auch die SchülerInnen freuten sich auf die Zusammenarbeit. Sie wollten sehen, „wie unterschiedlich die Meinungen zu den diversen Themen sein können und wie diese akzeptiert und anerkannt werden oder wie darüber diskutiert wird.“ Als besonders spannend erwies sich das ins Auge gefasste praktische Ziel: „An Unterrichtsmaterialien für einen so sensiblen Bereich mitzuarbeiten, finde ich eine tolle Herausforderung“, meinte eine Schülerin der Krankenpflegeschule. Nicht zuletzt wurden von Seiten der Auszubildenden auch gesellschaftspolitische Ziele angesprochen. So wünschte sich ein Schüler der HTL Mistelbach, „dass wir zu einer Lösung zur Verbesserung der Lebenssituation von benachteiligten Gruppen kommen.“

Kathrin Sperker, Lehrkraft der Pflegeakademie Barmherzige Brüder, freute sich auf vielfältige Zugänge und Materialien, insbesondere für ihre Unterrichtsfächer Palliativpflege und Gesundheitsförderung. Reinhard Pichler, Direktor und Ethiklehrer ebendort, wünschte sich von den neuen Materialien, dass Basics spannend vermittelt werden, damit die SchülerInnen Ethik als „potentes Werkzeug“ erkennen. Martin Wimmer, der in der HTL Mistelbach unterrichtete, wo seine SchülerInnen technische Hilfsmittel für beeinträchtigte Personen konstruierten, war besonders an der verstärkten Kooperation mit der Pflegepraxis interessiert. Denn was passiert mit der Gesundheitstechnik? Wie verändert sie das Leben schwer kranker Menschen und den Alltag von Angehörigen und BetreuerInnen?

Weil die SchülerInnen und LehrerInnen nicht Objekte der Forschung waren, sondern aktiv in den wissenschaftlichen Prozess einbezogen wurden, waren ihre Interessen und Fragen von Anfang an ausschlaggebend. So wurden verschiedene Lehrkräfte zu ihren Erfahrungen und zu ihrer Sicht auf das Thema befragt. Für die SchülerInnen gab es einen Einstieg durch einen Wordrap, in dem sie spontane Assoziationen zu Dr. House, 80-60-80, Rollstuhl, Darmgrippe, Opa und anderen Begriffen aussprechen sollten. Mit viel Lust beteiligten sich die SchülerInnen an dieser Übung bei den Kick-off-Veranstaltungen an den Schulen. Ein vertiefender Zugang wurde anhand publizistischer und literarischer Materialien erarbeitet, bei dem Themenschwerpunkte festgelegt und Fragestellungen präzisiert wurden. Schließlich ging es darum, welche Aspekte die angehenden KrankenpflegerInnen, TechnikerInnen bzw. zukünftigen StudentInnen natur- oder geisteswissenschaftlicher Richtungen interessierten. Zahlreiche kleine und große Fragen wurden in den Gruppen der drei Klassen zusammengetragen: Sind gehandicapte Menschen, wenn sie unter sich sind, normal? Können Abweichungen positiv und negativ gewertet werden? Wer/Was macht Randgruppen? Wenn wir bessere Menschen machen können, warum sollten wir das nicht tun? Sind Versicherungen unfair? Warum werden Arme und Reiche nicht gleich behandelt? Spaß im Alter, Glücklichsein im Alter? Ist jeder, der glücklich ist, auch gesund?

Die Ergebnisse aus diesen Workshops bildeten den Leitfaden für die Forschungstage, die zu Semesterbeginn 2011 an der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften abgehalten wurden. „Menschen, die wirklich in der Forschung und Wissenschaft verkehren“, wie sich eine Schülerin begeistert äußerte, boten Seminare, Vorlesungen und Workshops an und setzten sich dort mit jenen Fragen auseinander, die die SchülerInnen vorher erarbeitet hatten: „Ist Gesundheit was Normales, und wenn ja, warum?“, diskutierte etwa der Soziologieprofessor Anselm Eder an der Universität Wien. André Gaszó, Mediziner, Biologe und Philosoph an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, informierte über Auswirkungen der Nanotechnologie und provozierte mit der Frage: „Wie sicher ist sicher genug?“ Unter dem Titel „Ich lass’ mich nicht vom Leben abhalten!“ präsentierten Studierende der Lehrveranstaltung „Forschungsethik“ an der Fachhochschule Campus Wien ihre Ergebnisse aus Interviews mit chronisch Kranken und diskutierten mit SchülerInnen Lösungsansätze für Herausforderungen, die sich aus Betroffenensicht stellen. Neue Fragen zu Gerechtigkeit im Gesundheitssystem und zu Grenzziehungen der Technik wurden aufgeworfen. „Darf man über mein Leben aufgrund meiner Lebensführung entscheiden und mir z.B. eine Organspende vorenthalten?“ „Was sind konkrete Auswirkungen der assistiven Technologien auf den Alltag der Pflegenden?“ „Gibt es einen Punkt, an dem die Technik überhand nimmt?“ Was bislang als natürliche Gewissheit oder unveränderlicher Sachverhalt galt, wurde plötzlich befragbar und weckte großes Interesse: die klare Grenze zwischen Leben und Tod, Untersuchungsroutinen von Schwangeren oder die Macht der Firmen im Bereich der Grünen Gentechnik. Eine Besucherin bemerkte überrascht: „Ich wusste gar nicht, dass Datenschutz so wichtig ist.“

Aber auch für die Lehrenden stellte sich die Auseinandersetzung mit den SchülerInnen als ganz besondere Erfahrung heraus. Ursula Klingenböck, Professorin am Institut für Germanistik, betonte die Wichtigkeit, sich verstärkt der vernachlässigten Schnittstelle Uni/Schule zu widmen, und meinte nach ihrem Seminar: „Die Arbeit mit SchülerInnen hat MIR jedenfalls großen Spaß gemacht.“ Walter Peissl, stellvertretender Direktor des Instituts für Technikfolgenabschätzung, resümierte nach dem Akademietag, dass nicht nur die Hemmschwellen zwischen Schule und Wissenschaft abgebaut würden – „das ist doch evident!“ –, sondern dass auch den ForscherInnen der Österreichischen Akademie der Wissenschaften die Auseinandersetzung mit „Externen“ immer weiterhelfe. Während die Chemikerin Mahshid Sotoudeh, die sich mit den SchülerInnen über „Ein neues Haus zum Älterwerden“ auseinandersetzte, derartige Veranstaltungen ebenfalls als sehr sinnvoll einschätzte, plädierte Gerhard Luf, Professor für Rechtsphilosophie, nach seinem Seminar mit den heftig diskutierenden SchülerInnen zusätzlich dafür, „verstärkt in die Schulen zu gehen“.

Dass die Zusammenarbeit mit den WissenschafterInnen Perspektiven und Zugänge zu Ethik und Gesundheit erweiterte und die SchülerInnen zu spannenden Fragen anregte, zeigte sich in verschiedenen Themenstellungen ihrer Maturaarbeiten: Auseinandersetzungen mit anderen Schmerzkulturen, Recherchen zum Thema Suizid in der Literatur oder zu Krankheit in der Popmusik. Einige dieser Ergebnisse kommen in den Lehr- und Lernmaterialien jetzt auch anderen SchülerInnen zugute. Während für den Großteil der Projektbeteiligten die Zusammenarbeit nach einem Jahr endete, setzten kleine Forschungsgruppen mit selbst gewählten Themen die Kooperation mit dem Projektteam fort. Für Nachhaltigkeit der Forschungsergebnisse des Wissenschaftsnachwuchses wurde dabei nicht zuletzt durch die Ethik-Leitlinien gesorgt, die anhand von drei Entwicklungsprojekten der HTL Mistelbach erarbeitet wurden. Was aus ethischer Sicht bei der Planung und Entwicklung „Assistiver Technologien“ bedacht werden sollte, wie etwa die Einbindung potentieller NutzerInnen, wird von nun an auch ethische Überlegungen zukünftiger MaturantInnen anleiten.

Inzwischen ist nach zwei Jahren intensiver Zusammenarbeit von SchülerInnen, Studierenden, LehrerInnen und ForscherInnen das Projekt zu Ende gegangen. Zentrales Ergebnis stellte die Erkenntnis dar, dass das Fach Ethik mit seinen traditionellen Themenstellungen und seiner herkömmlichen schulspezifischen Didaktik für Normalisierung sorgt und Ungleichheiten sowie herrschaftliche Diskurse verschärft: über den Rückgriff auf schon Gesagtes, wie Martin Schnell (2008) kritisiert, oder über die Ausblendung marginalisierter Stimmen, wie Stellungnahmen Betroffener offenlegen (vgl. Pfabigan 2011). Das Chefprinzip, so Projektleiter Peter Kampits (2012), hat angesichts des Wertepluralismus ausgedient.

In diesem Sinn beteiligten sich SchülerInnen und Studierende an engagierten Modellen, die Bioethik im Unterricht anders in den Blickpunkt rücken: mit anderen Fragen, anderen Themen und anderen ExpertInnen. Das Diplomarbeitsteam Franz Eisenecker, Simon Frühwirth und Maximilian Jauk etwa, die einen vom Krankenbett aus steuerbaren TV-Drehteller entwickelten, „bemühten sich bis zuletzt, ethische Aspekte zu berücksichtigen und den Bedürfnissen möglicher NutzerInnen, die wir im Rahmen des Sparkling Science-Projekts kennen lernen durften, gerecht zu werden.“ Karin Seper von der Gesundheits- und Krankenpflegeschule wertete Filme und Studien zu „Sexualität im Alter“ aus und widmete sich damit Grundbedürfnissen, die in Langzeitpflegeeinrichtungen nach wie vor tabuisiert sind. Weil sich die Unterrichtsliteratur vor allem an den gesunden, westlichen, männlichen Jugendlichen aus der Mittelschicht richte, entwickelte Katharina Pecher, Lehrerin am Parhamer Gymnasium Wien, in Zusammenarbeit mit ihren SchülerInnen höchst spannende Materialien zu Normalität und Abweichung, Gesundheit und Krankheit (vgl. Pecher 2012).

Diese und viele andere Ergebnisse der Forschungszusammenarbeit wurden schließlich auch dem interessierten Publikum aus Fachdidaktik und Unterrichtspraxis zugänglich gemacht. So ist im Herbst 2012 im Facultas Verlag der Band Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht erschienen, (Pfabigan/Zelger 2012) in dem Bioethik im Spannungsfeld gesellschaftlicher Interessen diskutiert sowie Reflexionsansätze und Projektergebnisse vorgestellt werden. „Gesund oder krank – wer bestimmt das? Normal oder nicht – wer legt das fest? Selbstbestimmt leben und altern – was heißt das? Medizinisch-technisch machbar – was davon aber ist erlaubt und gerecht?“ Diesen Fragen widmet sich das Buch, das von SchülerInnen, LehrerInnen und ForscherInnen verfasst wurde und einen umfassenden Einblick in das Projekt und seine Ergebnisse bietet. (siehe Inhaltsverzeichnis und Einleitung)

Diese Fragen stehen aber auch im Zentrum dieser Website. Sie enthält Materialien von SchülerInnen, LehrerInnen und ForscherInnen für verschiedene Unterrichtsgegenstände mit zahlreichen Hintergrundtexten, Zeitungsartikeln, Kopiervorlagen usw. Einführende Artikel werden zu ethischen Denkrichtungen und neuen Ansätzen zu Anerkennung, Machtkritik, Leiblichkeit, Intersektionalität und Identität geboten. Nicht zuletzt gibt es komprimierte didaktische Ansatzpunkte und textuelle und bildhafte Streifzüge durch das Projekt.

Buch und Website wurden in feierlichem Rahmen an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften der Öffentlichkeit präsentiert. Wieder standen SchülerInnen im Mittelpunkt und stellten unter anderem ethische Aspekte des selbst entwickelten Walkassists sowie Herausforderungen der Forschungsethik vor. Das Publikum, wie etwa der langjährige Schuldirektor Stefan Böck, die Pflegewissenschafterin Sabine Ruppert oder Martina Hiemetzberger, die an der Gesundheits- und Krankenpflegeschule des Sozialmedizinischen Zentrums Ost unterrichtet, war sichtlich begeistert von den engagierten Präsentationen und gratulierte zu den „sehr interessanten Ergebnissen“ und zum „wirklich sehr innovativen Projekt“.

 

Literatur

Kampits, Peter (2012): Zum Ende des Chefprinzips. Konsensfindung im Wertepluralismus. In: Doris Pfabigan/Sabine Zelger (Hg.): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien, 25–37.

Pecher, Katharina (2012): „Körper und Gesundheitsnormen“ im Ethikunterricht. Ein Bericht aus der Praxis. In: Doris Pfabigan/Sabine Zelger (Hg.): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien, 123–139.

Pfabigan, Doris (2011): Würde und Autonomie in der geriatrischen Langzeitpflege. Eine philosophische, disziplinen- und methodenübergreifende Studie zu Fragen eines selbstbestimmten und würdevollen Alterns. Hungen.

Pfabigan, Doris/Zelger, Sabine (Hg.) (2012): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien.

Schnell, Martin (2008): Ethik als Schutzbereich. Kurzlehrbuch für Pflege, Medizin und Philosophie. Bern.