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Ansatzpunkte einer machtkritischen Ethik

Von Doris Pfabigan

Unter Bioethik (gr. bíos, Leben) ist jener Bereich der Ethik zu verstehen, der sich mit dem „richtigen Handeln“ des Menschen gegenüber dem Lebendigen oder der Natur insgesamt beschäftigt (vgl. Siep 1998, 16). Diese Disziplin ist ein Teil der angewandten Ethik, in der es nicht um Grundlegungsfragen geht, sondern um die ethische Beurteilung besonderer Probleme sowie um Risikoeinschätzung des gegenwärtigen Lebens (vgl. ebd.). Diese ethischen Herausforderungen ergeben sich unter anderem durch die rasante Entwicklung der Bio- und Medizintechnologie sowie der Pharmakologie und müssen in der wertepluralen Gesellschaft verhandelt werden. Bioethische Überlegungen und Entscheidungen sind dabei maßgeblich davon bestimmt, was überhaupt als Risiko wahrgenommen und bewertet wird. Zum einen wird der Anspruch geltend gemacht, Krankheit, Behinderung und Normabweichungen einzudämmen oder zumindest zu kontrollieren. Zum anderen wird das Risiko in den unkontrollierbaren Effekten gesehen, welche durch den Einsatz technischer Entwicklung, die auf die Optimierung von Lebensprozessen abzielt, erst geschaffen werden. Jede dieser Perspektiven enthält implizit kulturelle Wertvorstellungen von einem guten, lebenswerten Leben. Sie werden als konkurrierende, widersprüchliche, sich gleichzeitig aber auch überschneidende Realitätsansprüche geltend gemacht (vgl. Beck 1986, 77f.). Bioethik ist damit nicht nur ein Teilbereich der Angewandten Ethik, sondern auch ein Feld, in dem durch unterschiedliche Macht- und Wissensstrategien ethische, rechtliche, gesundheitspolitische sowie ökonomische Interessen zur Durchsetzung gebracht werden sollen. (vgl. Pfabigan 2012)

Die Auseinandersetzung mit bioethischen Fragen im schulischen Kontext kann also nicht auf abstrakte Entscheidungsalternativen in Form von „Soll der Handel mit Körperstoffen erlaubt sein – ja oder nein?“ reduziert werden. Damit würde die kritische Sicht auf die Sache selbst sowie auf alternative Lösungsansätze und kreative Veränderungspotentiale verhindert (vgl. Schnell 2008, 12). Vielmehr gilt es die kritische Funktion der Ethik zu stärken, indem nach sozialen Kräfte und Machtformen sowie Wissenspraktiken gefragt wird. Darüber hinaus gilt es, die ihnen eingeschriebenen Zumutungen und Zwänge, aber auch Begrenzungen und Kontingenzen sichtbar zu machen (vgl. Lemke 2007, 153). Mit Judith Butler (vgl. 2003, 8f.) ist damit die Frage nach ethischen Normen, an welchen das Handeln auszurichten ist, der Frage nachgeordnet, woher diese Normen überhaupt kommen. Zentral ist hierbei der Blick darauf, welcher Art von gesellschaftlichen Zielen sie dienen und wer in welcher Weise von deren Durchsetzung profitiert. Das kritische Moment dieser Art von „Vorfragen“ liegt darin, alternative Denkmöglichkeiten auszumachen und neue Zielperspektiven zu erkennen. Thomas Lemke (2007, 149ff.) hat im Anschluss an Michel Foucaults Arbeiten zu Biopolitik und Biomacht drei Fragenkomplexe erarbeitet, die eine solche kritische Analysearbeit auch im schulischen Kontext anleiten können.

Zunächst gilt es zu erkunden, welche Deutungsmuster des Lebens als „Wahrheit“ geltend gemacht werden, auf deren Hintergrund die Diskussion um bestimmte biotechnische Forschungsvorhaben und Entwicklungen sowie um den Einsatz von Gerätschaften oder pharmakologischen Erzeugnissen stattfindet.

Die nächsten Fragen kreisen darum, wie Machtprozesse bestimmte Wissensformen hervorbringen und verbreiten. Mit diesen Fragestellungen können „Ungleichheitsstrukturen, Wertehierarchien und Asymmetrien sichtbar gemacht werden, die durch biopolitische Praktiken (re-)produziert werden“ (Lemke 2007, 150) und in der ethischen Auseinandersetzung von Bedeutung sind:

Im dritten Fragenkomplex geht es darum, welche Interpretationsmöglichkeiten der Identitätsbehauptung in unserer Gesellschaft offenstehen. Welche Deutungsmuster stellen wissenschaftliche, religiöse, medizinische und andere Autoritäten zur Verfügung?

Diese machtkritischen Fragen zur Entstehung von Wissen und Diskursen sind nicht nur in Zusammenhang von utilitaristischen Positionen zu stellen (siehe Ein bescheidener Vorschlag), sondern ganz allgemein, wenn bestimmte Körper-, Alters-, Sexualitäts- und Identitätsvorstellungen als selbstverständlich gelten (siehe Körper und Macht, Wer möchte ich im Alter sein?, Nie zu spät für Sex und Zärtlichkeit, IKEA-Identität). Besonders geeignet erscheinen jedenfalls Perspektivenwechsel zwischen dominantem Diskurses, wie er vor allem von Medien und Wissenschaft geführt wird, und marginalisierten Positionen, die manchmal die Betroffenen selbst innehaben, die aber auch mit Mitteln der Kunst eingenommen werden können (siehe auch Betroffenensicht, Dirty old (wo)man?, Hundeherz, 41 % Behinderte? Krampfkampf Pflegesystem).

Literatur

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main.

Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main.

Lemke, Thomas (2007): Biopolitik zur Einführung. Hamburg.

Pfabigan, Doris (2012): Gesundheitsrisiken und Verantwortungszumutungen. Bioethik zwischen technischen, naturwissenschaftlichen und ethischen Diskurspraxen. In: dies./Zelger, Sabine (Hg.): Mehr als Ethik. Reden über Körper und Gesundheitsnormen im Unterricht. Wien, 39–53.

Schnell, Martin (2008): Ethik als Schutzbereich. Kurzlehrbuch für Pflege, Medizin und Philosophie. Bern.

Siep, Ludwig (1998): Bioethik. In: Annemarie Pieper/Urs Thurnherr (Hg.): Angewandte Ethik. Eine Einführung. München, 16–37.